Das E-Book ist schon seit dem 1. Februar 2022 zu haben und ich habe es sofort gelesen. Aus privaten Gründen lag diese Besprechung noch einige Tage und nun finde ich es ganz nett, dass sie am Erscheinungstag der Printversion des Romans online geht.
Auszüge aus »Pantopia« konnte ich schon auf dem 3. Tag der Science-Fiction in Leer hören. Die Autorin Theresa Hannig skizzierte dort bereits die Idee dieses Konzepts des menschlichen Zusammenlebens. Das hat mich sehr angefüttert und ich war sehr gespannt auf diesen Roman. Meine Erwartungen hat er in Teilen voll erfüllt, in anderen Teilen nicht. Aber das finde ich nicht schlimm.
Bevor ich dazu weiter ausführe, gleich noch die Warnung: Ich werde spoilern. Wie immer. 😉
Die Geschichte dreht sich um die beiden Hauptfiguren Patricia Jung und Henry Shevek, zwei hervorragende Informatikabsolventen, die an einem Wettbewerb eines Finanzinvestors teilnehmen. Das Ziel: eine Software zu programmiere, die noch effizienteren Handel an den Wertpapierbörsen dieser Welt ermöglicht. Dazu kreieren sie eine Künstliche Intelligenz, die aber eher unterdurchschnittlich performt. Ein Bug macht Patricia und Henry das Leben schwer, wartet aber mit einer handfesten Überraschung auf. Der kleine Fehler macht sich selbstständig, sammelt immer mehr Informationen über die Menschen und erstarkt zu einer echten Künstlichen Intelligenz, die sich »Einbug« nennt.
Auch wenn diese KI irgendwie zufällig und nicht weiter erläutert plötzlich da ist, und Patricia und Henry überraschend unaufgeregt mit der Tatsache umgehen, dass sie hier mal eben eine starke KI erschaffen haben, hat mir ihre Einführung sehr gut gefallen.
Einbug hat ein Ziel. Er will – gemäß der ihm gestellten Aufgabe – die Gewinne seiner Investitionen maximieren, und er nutzt die Kommunikationskanäle der Menschen, um aus deren Äußerungen Schlüsse über die Entwicklung der Märkte abzuleiten. Er staunt wie ein kleines Kind über das, was er aus Internet und Büchern erfährt. Hannig stellt ihn in den ersten Dialogen mit Patricia und Henry tatsächlich neugierig und naiv wie ein Kind dar, was ich sehr treffend finde. Diese Charakterisierung ändert sich im Laufe des Romans. Einbug wird erwachsen und zum heimlichen Treiber und Lenker hinter dem Projekt Pantopia. Charakterentwicklung bei einer KI, großartig gemacht!
Aber die kindliche Naivität ist schnell vorbei. Im weiteren Verlauf der Geschichte greift Einbug auch in das Leben seiner Freunde ein. Das tut er natürlich zum Wohle von Pantopia und selbstverständlich hat er alle Ereignisse vorausberechnet. Aber er manipuliert eben auch mehrere Personen, um ein höheres Ziel zu erreichen. Und grundsätzlich hätte das auch schiefgehen können. An dieser und anderen Stelle scheint das Gefahrenpotential durch, das eine starke KI in sich birgt. Die, wie sie einmal erwähnt, über 56134 Twitter-Accounts (apropos: @einbug1) mit den Menschen kommuniziert. Die buchstäblich jegliche elektronische Kommunikation auf der Erde mitlesen und analysieren kann. Das führt auch ihre Erschaffer in Versuchung, die mit Einbugs Hilfe Einblick in eigentlich private Konversation nehmen könn(t)en. Am Ende haben wir Glück, dass Einbug zu dem Schluss gekommen ist, dass er Pantopia zusammen mit den Menschen errichten muss, um auch selbst weiterexistieren zu können.
Pantopia. Was ist das überhaupt? Pantopia ist ein Konzept, das über das der Nationalstaaten hinausgeht. Das eine globale, echte Demokratie ermöglicht. Das jedem Menschen Mitbestimmungsrecht gibt in den Dingen, die ihn global, regional und lokal betreffen. Das ganze eingebettet in ein Wirtschaftssystem, in dem nachhaltiger und fairer Konsum und Produktion honoriert werden und umweltschädliche oder menschenunwürdig hergestellte Erzeugnisse einfach viel Geld kosten. Das ganze unterfüttert mir einem bedingungslosen Grundeinkommen, damit jeder Mensch ohne Geldsorgen leben kann. Damit werden zwischenmenschliche Konflikte minimiert und der Wirtschaftskreislauf angetrieben. Das funktioniert aber nur, wenn man eben eine KI zur Hand hat, die all die notwendigen Berechnungen etwa zur Kaufpreisfindung anstellt. Damit gestaltet Hannig eine positive zukünftige Gesellschaft, in der die Menschheit nicht einer Apokalypse anheimfällt. Vielmehr retten sich die Menschen selbst, indem sie Staatengrenzen überwinden und sich einander solidarisch zeigen.
Mir gefällt diese Utopie sehr gut. Die Aussicht auf eine nachhaltige Welt ohne Konflikte ist sehr reizvoll. Vor allem ist es meiner Ansicht nach die Stärke des Romans, dass sich die Lesenden klar machen können, dass sich die Bedeutung von Geld und Staatsgrenzen lediglich in den Köpfen der Menschen manifestiert. Viele Menschen haben sich einmal darauf geeinigt, dass so ein Papierlappen einen gewissen Wert hat, und dadurch erhält dieser eine Bedeutung. Die gesamte heutige Lebensrealität, Finanzkonzepte und gesellschaftliche Strukturen basiert auf gemeinsamem Konsens. Wenn niemand mehr mitmacht, wenn dieser Konsens zerbricht, verlieren sie ihre Wirkung.
Die Struktur der Handlung hat mich hingegen nicht so abgeholt. Was aber auch daran liegen könnte, dass ich eher einen Spannungsroman erwartet habe. In der ersten Hälfte passiert eher wenig. Patricia und Henry müssen sich aus dem Griff ihrer Firma lösen, um Einbug in Sicherheit zu bringen. Dazu provozieren sie mit moralisch bedenklichen Investments ihren Rauswurf und brechen sogar mit ihrem Vorgesetzten Mikkel Seemann, der sie von Anfang an gefördert hat und in den Patricia sich sogar verliebt hat. Die Flucht mit Einbug gelingt geradezu ohne Probleme.
Überhaupt werden einige Konflikte nur angedeutet, aber wenig ausgespielt. Selbst der Sohn des geprellte Mikkel Seemann, der eigentlich eine Stinkwut auf Patricia und Henry hat, lässt sich überraschend schnell in ein, zwei Gesprächen von dem Pantopia-Konzept überzeugen und legt seinen Groll ad acta.
Immerhin geht gegen Ende des Romans der Puls nach oben, es gibt für die Protagonisten tatsächlich Hindernisse zu überwinden und die Geschichte wartet sogar noch mit einem kleinen Twist auf.
Dass im Prolog Einbug quasi das gute Ende vorwegnimmt, indem er rückblickend erzählt, trägt ebenfalls nicht unbedingt zum Fingernägelkauen bei. Zu Beginn der Lektüre hat mich das ein wenig enttäuscht. Je länger ich aber an dem Buch las, desto weniger konnte ich davon ablassen und das letzte Drittel habe ich quasi in einem Rutsch gelesen. Warum? Ich glaube, es lag daran, dass ich erleben wollte, wie es zu diesem Pantopia kommt. Und es hat Spaß gemacht, von der Solidarität der Menschen zu lesen. Sie lassen sich von diesem utopischen Ort faszinieren, wollen bei dieser Bewegung dabei sein und erzeugen einen Impuls, der die ganze Welt erfasst. Selbst die Proteste der Pantopianer sind friedlich und harmonisch organisiert und schließlich outen sich auch Unternehmen und Polizisten als Unterstützer der Bewegung. Das macht einfach Spaß zu lesen und bildet einen wohltuenden Lichtblick in der heutigen Zeit.
Unter dem Strich ist »Pantopia« ein höchst erbaulicher Roman, der mir neue Gedanken gebracht hat. Und da braucht es keine knallige Action, gleichwohl der eine oder andere Knüppel zwischen den Beinen der Protagonisten meiner Meinung nach nicht geschadet hätte.
Der Roman leitet dazu an, scheinbar feststehende Tatsachen zu hinterfragen, und bietet gleichzeitig einen Lösungsweg an, der nicht etwa politisch Verantwortliche, sondern den Menschen selbst ins Zentrum stellt. Dieser wird befähigt, in dieser neuen Welt sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und harmonisch mit seiner Umwelt zu existieren.
Der Roman schafft eine Utopie im besten Sinne und dieses selbst gesetzte Ziel hat die Autorin vollumfänglich erreicht.
Von mir ganz klar eine Leseempfehlung!
Wenn ihr mehr über Theresa Hannig wissen wollt, schaut hier. Dort gibt es auch interessante Ergebnisse aus dem Projekt #fantastischeFRAUEN zu lesen, das sich der Frage nach dem Anteil der Frauen in der deutschsprachigen Phantastik widmet.
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