Es gibt Bücher, die lassen einen nicht mehr los. Werden bewusst, manchmal aber auch unterbewusst, Teil der eigenen Entwicklung. Über 30 Jahre nachdem ich das erste Mal „Die letzten Kinder von Schewenborn“ gelesen habe, stelle ich fest, dass das Buch unterbewusst eigentlich auch ein Teil von mir ist. Und ich nach neuerlichem Lesen vor ein paar Tagen, das Bedürfnis habe, ein paar Gedanken dazu in Worte zu fassen.

Handlung im Kurzen
Familie Bennewitz ist mit ihren 3 Kindern auf dem Weg in den Sommerurlaub zu den Großeltern. Diese wohnen in Schewenborn, einer Kleinstadt in der Nähe von Fulda. Mitten im sogenannten Fulda Gap. Ein paar Kilometer vor dem Ziel wird der Himmel von einem grellen Lichtblitz erleuchtet. Kurz darauf tost eine Druckwelle über das Auto das Familie. Ein Atomkrieg ist über Europa ausgebrochen.

Zeitgeschichtliche Umstände
Anfang der 1980er, genauer gesagt 1983, erschien das Buch. 4 Jahre zuvor marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein und führte seither Krieg gegen Großteile der afghanischen Bevölkerung. Jene wird daraufhin seitens den USA mit Waffen und Ausbildung unterstützt. Als direkte Folge des Einmarsches endete die bis dahin existierende Entspannungspolitik zwischen den beiden Großmächten. Kurz vor dem Einmarsch erfolgte bereits der NATO-Doppelbeschluss, der in Deutschland einer neuen Friedensbewegung Vorschub leistet. Mehrere Jahre hintereinander versammeln sich in Bonn, im Hofgarten und auf den Rheinwiesen, mehrere hunderttausend Menschen um gegen Aufrüstung und die atomare Bedrohung zu demonstrieren. Aber nicht nur in Deutschland wird demonstriert. Europaweit gehen Menschen auf die Straße um für eine friedliche, atomwaffenfreie, Welt zu demonstrieren.

Mein Blick auf das Buch
Als ich das Buch zum ersten Mal lese, bin ich entweder noch 11 oder frische 12 Jahre alt und besuche die 6. Klasse des Goethe Gymnasiums in Freiburg. Es ist Thema im Deutschunterricht. Ob nun auf Grund des Lehrplanes oder auf Wunsch des Lehrers, ich weiß es nicht (mehr). Überhaupt kann ich mich, rückblickend, nicht an das damalige Leseerlebnis erinnern. Ich kann also nicht sagen, ob mir das Buch wegen seiner Handlung Alpträume bereitete oder ob ich damals aktiv am Unterricht teilnahm. Aus heutiger Sicht kann ich rückblickend jedoch sehr wohl sagen, dass es mich unterbewusst all die Jahre begleitet haben muss. Anders kann ich mir nämlich einige meiner Entscheidungen nicht erklären. Insbesondere die, dass ich mich seit nunmehr 8 Jahren sehr stark für Perry Rhodan und dessen Prämisse einer wunderbaren Utopie der zukünftigen Menschheit begeistere. Ebenfalls dürfte das Unterbewusste auch der Grund sein, warum ich es im letzten Sommer in einem Bücherschrank des LionsClub im österreichischen Gmunden für eine kleine Spende mitgenommen habe. Mit dem Vorsatz es nochmals zu lesen.

Eines ist jedenfalls -im Vergleich zum utopischen Setting der Serie Perry Rhodans- sicher, Gudrun Pausewangs Werk ist -wie ich finde- alles andere als eine eben diese. In einer einfachen Sprache, die allerdings ganz und gar nicht verharmlosend ist, konfrontiert sie die Leser:innen mit der bitteren Wahrheit, dass nichts mehr so ist, geschweige denn sein wird, wie es war wenn das atomare Feuer die Welt in Asche legt. Aus Sicht des zu Beginn 12 jährigen Roland, führt uns die Autorin nämlich die unmittelbaren Folgen eines Atomkrieges vor Augen. Er sieht Massen an Flüchtlingen, muss Nahrung organisieren und erlebt den Tod seiner Geschwister. Er verspürt aber auch das Bedürfnis seiner Mutter zu helfen, die sich um in Schewenborn gestrandete Kinder kümmert. Seine Eltern fühlen sich schnell mit der Situation überfordert und stoßen an ihre seelische/psychische Belastungsgrenze. Die Erkenntnis, dass keine Hilfe kommen wird wirft sie aus der Bahn.

Ich habe an dieser Stelle mit mir gerungen ob ich anhand einzelner Textstellen versuchen soll, die im Buch herrschende Stimmung/Atmosphäre einzufangen. Wer mich aus unseren PodCasts kennt, weiß dass ich das ab und an mache. Ich habe mich aber dagegen entschieden. Aus einem einfachen Grund. Mir will es einfach nicht gelingen die einzelnen Textstellen in ihrem Zusammenhang so wiederzugeben, dass es der Brisanz gerecht wird bzw. am Ende nicht wie eine Nacherzählung wirkt. Also lasse ich lieber die Finger davon.

Was aber nicht bedeuten soll, dass mich das Buch wiederholt „kalt gelassen“ hat. Ganz im Gegenteil. Denn entgegen meinem aller Wahrscheinlichkeit nach nicht existenten Leseerlebnis vor +/- 35 Jahren, wurde ich dieses Mal sehr wohl von der Story und dem Setting gefangen genommen. Sei es, weil ich mich seit vielen Jahren als Woke und Linksgrünversifft, der mittlerweile jedwede Form der Nutzung von Atomenergie ablehnt, bezeichne. Oder weil wir einen Sohn in Rolands Alter haben. Oder weil die Nachrichten der letzten 15 Jahre nicht spurlos an mir vorbeigegangen sind. Egal ob die Atomkatastrophe von Fukushima, die Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie oder der seit 2022 herrschende Krieg in der Ukraine. Ebensowenig förderlich war mit Sicherheit auch das Sehen der Fernsehserie Chernobyl. Insbesondere die Serie führt plastisch gnadenlos vor Augen, was damals zur Katastrophe geführt hat und was ein Staatsapparat bereit ist zu tun. Alles hat mich beeinflusst und hat nun dafür gesorgt, dass ich beim erneuten Lesen tiefer in die Welt hineingezogen wurde.

Der Verlag gibt an, dass das Buch ab 12 sei, sprich +/- 6. Klasse1. Das Thema einer atomaren Katastrophe zu besprechen, egal ob durch einen Krieg oder ein AKW verursacht, ist in diesem Alter -wie ich finde- auf jeden Fall sinnvoll und auch notwendig. Jugendliche müssen, in Anbetracht dessen dass sie nunmehr permanent Medien konsumieren und daher mannigfaltigen Einflüssen ausgesetzt sind, früh die Gefahren der Atomenergie verstehen. Allerdings bitte nicht mittels dieses Buches. Denn die geschilderten Situationen sind -wie ich finde- zu heftig in dem Alter. Die Autorin wirft zwar nicht mit technischen Daten um sich, ebensowenig werden die Umstände geschildert die zum Abwurf der Bomben auf Europa führen. Das braucht es auch nicht. Der Fokus liegt schließlich auf den Folgen für einen Heranwachsenden und seines direkten Umfelds. Sie schildert aber teils sehr deutlich die Lebensumstände, mit denen die Überlebenden konfrontiert werden. Seien es verseuchte Gewässer, ausfallende Ernten, keine medizinische Versorgung oder aber Missbildungen bei Neugeborenen. DAS ist der Fokus der Autorin. Wobei ich die Schilderung letzteres der Autorin eindeutig ankreide. Was sie schildert, hätte man -wie ich finde- auch 1983 nicht in der Art schreiben dürfen, wie sie es getan hat. Hier bin ich ganz bei Sven Nickel und seiner in der wikipedia wiedergegebenen Kritik. Da hätte die Autorin anders formulieren müssen. Sehr passend ist hingegen ihre Wortwahl, bei der Frage wer Schuld an der Situation hat. „VERFLUCHTE ELTERN“ steht an einer Wand des Schewenborner Schlosses, geschrieben von Kindern. Und da hat sie Recht. Kinder müssen das ausbaden, was Eltern versäumt/unterlassen haben. Das darf nicht sein. 

Das Buch mahnt zu Recht und hinterlässt beim Leser/bei der Leserin ein mulmiges Gefühl und vielleicht auch den ein oder anderen dicken Kloß im Hals. Mir ist es jedenfalls so ergangen und ich werde -bei passender Gelegenheit- auch versuchen, dass unser Sohn das Buch liest.

Ich habe Angst vor solch einer Entwicklung oder gar Zukunft. Ich will das nicht, weder für mich, meine Familie oder irgendjemand anderem auf diesem Planeten.

Metadaten des Buches
Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autorin: Gudrun Pausewang
Umfang: 192 Seiten
Erschienen: 1983
ISBN (Print): 9783473580071
ISBN (eBook): 9783473476954

  1. Die Altersfreigabe der 1983 erschienen Filme „Die schrillen 4 auf Achse“ als auch „Die Glücksritter“ lautete FSK16. Die 1983 erschienenen C64-Spiele „Beach Head“ und „Castle Wolfenstein“ waren bis in die 2010er Jahre indiziert. Das 1984er Album „Debil“ von Die Ärzte, war von 1987 bis 2004 indiziert. ↩︎
Meine Gedanken zu: Die letzten Kinder von Schewenborn (Gudrun Pausewang)
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