…dann ergibt das eine sehr feine Geschichtensammlung!

Die Anthologie »Facetten der Zukunft« aus dem Verlag OhneOhren, herausgegeben von Stefan Cernohuby, verspricht »Science-Fiction made in Austria«. In der AutorInnen-Liste finden sich überwiegend österreichische oder zumindest in Österreich lebende Personen. Für den geneigte Raketenheftchenliebhaber sind wohlbekannte Namen wie Roman Schleifer, Michael Marcus Thurner oder Leo Lukas dabei. Aber auch Jacqueline Mayerhofer, Faye Hell, Nora Bendzko oder Melanie Vogltanz sind bekannte Namen, die eine bunte und vielfältige Mischung an Geschichten versprechen.

Eröffnet wird das Buch mit einem Vorwort des kürzlich verstorbenen Herbert W. Franke. Er referiert über die Notwendigkeit, über die Zukunft nachzudenken, was gerade auch auf der literarischen Ebene geschehen muss, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Ein sehr erbaulicher Text, der auch kurz die Vergangenheit der Phantastik in Österreich einbezieht.

Jeder Geschichte vorangestellt sind eine kurze AutorInnen-Vita sowie schlagwortartige Triggerwarnungen. Letztere begrüße ich ausdrücklich. Sie können ein sehr gutes Hilfsmittel sein, wenn man mit bestimmten Inhalten oder Themen nicht konfrontiert werden möchte. Wer nicht betroffen ist, kann sie einfach überblättern, und selbst wenn man sie mitliest, geben sie keinen Hinweis auf die Inhalte der zugehörigen Geschichte.

Ich muss gestehen, während der ersten Story Der letzte Wiener von Werner Skibar hatte ich die Befürchtung, dass das Buch eine einzige Referenz auf wienerische Insider-Begriffe wird. Ein Junge namens Maximilian bewegt sich durch ein zukünftiges Wien, erlebt seltsame Dinge und trifft auf Kaiserin Sisi, die im Alfa Romeo durch die Straßen rast. Ich kam in den Text nicht rein, er war mir irgendwie zu abgedreht und ich hatte das Gefühl, dass ich viele Anspielungen verpasse. Er hat meinen Geschmack schlicht nicht getroffen.

Bei Anekdote zu Nivellierung der Arbeitsmoral von Faye Hell erlebt man eine Gesellschaft, in der neunzig Prozent der Bevölkerung in einem klar strukturierten Tagesablauf für die übrigen zehn Prozent arbeiten. Aus der Perspektive einer dieser »Nonas« erleben die Lesenden die Konditionierung Fokussierung dieser Arbeitskräfte auf ihr Tagewerk sehr eindringlich mit. Das Aufeinandertreffen mit einer »Decima« reißt die Protagonistin aus ihrer Wirklichkeit.

Der Titel von Jacqueline Mayerhofers Träumen KIs von analoger Liebe? nimmt einen Grundaspekt der Story bereits vorweg. Die Kommandantin eines Forschungsraumschiffs erlebt am eigenen Leibe, wie es ist, wenn sich die Schiffs-KI in einen verliebt. Anfangs noch skurril wird die Geschichte zunehmend creepy, aber auch berührend. Es hat mich ein wenig gegruselt. Sehr schön! Mein erstes Highlight im Buch!

Die genetische Optimierung des eigenen Nachwuchses ist ein Thema, das der näheren Zukunft zuzuordnen ist. Würde man große Geldsummen ausgeben, um seinen Kindern einen Vorsprung im Leben mitzugeben? Und wie weit würde man gehen? Diese Fragen sind die Grundlagen für Zukunftsinvestitionen von Caroline Hofstätter. Man gerät bei der Lektüre unweigerlich ins Sinnieren, wenn die Figuren wie in einem Autosalon besprechen, mit welcher Optimierung ihr zukünftiger Nachwuchs ausgestattet werden soll. Man kann den gesellschaftlichen Druck, unter dem sie stehen, geradezu mitfühlen. Zusammen mit den sehr gut gezeichneten Figuren (was für ein Arsch von Mann!) ist diese Story ein weiteres Highlight in diesem Buch.

Michael Marcus Thurner steuert die Geschichte Crisper Cracker bei. Auch hier geht es um genetische Modifikation. Diesmal spielt die Veränderung des eigenen Körpers eine Rolle, um in einer durchkonstruierten Gesellschaft seine Stellung zu verbessern. Eine gesichtslose Regierung kontrolliert alles, der einzelne Mensch hat keine echte eigene Entfaltungsmöglichkeit. Auffällig ist die sehr explizite Wortwahl, die aber nicht Selbstzweck ist, sondern durchaus zur Geschichte passt.

Bei Rufe den Donner von Stefan Cernohuby hatte ich heftge H.G. Wells-Vibes. Eine Person, die sich hat einfrieren lassen, erwacht in einer endzeitlichen Zukunft und wird von den dortigen Menschen wie eine Art Erlöser behandelt. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen, an der die vorher Erweckten mit tödlichen Folgen gescheitert sind. Ich habe die Pointe früh geahnt, was meinen persönlichen Neigungen geschuldet ist. Aber das tat der Story keinen Abbruch, die eine sehr schräge Zukunftsgesellschaft zeichnet.

Jana Paradigi steuert Farm 49 bei. Die Story fällt für mich gegenüber anderen ein wenig ab. Sie ist schön erzählt und zeichnet ein greifbares Bild eine postapokalyptischen Marskolonie. Aber für mich enthält sie zu viele Erklärungen, die Tempo aus der Geschichte nehmen. Außerdem erscheint mir der Schluss zu unvorbereitet.

Bei 60 Minuten von Roman Schleifer fühlt man sich an Stephen King erinnert. Eine interessante Story, die von einer morbiden Gameshow handelt. Für meinen Geschmack, hätten die Figuren den Tod vor Augen gerne noch aktiver sein dürfen. Ich würde mir da mehr Panik vorstellen. Die Auflösung ist überraschend, aber insgesamt fand ich sie ein wenig konstruiert.

Nora Bendzko ist mit Dein Paradies vertreten. Eine Gesellschaft von miteinander vernetzten Personen löst darin viele Probleme. Gleichzeitig werden aber auch neue geschaffen. Was macht ein Kollektiv mit dem Individuum? Wie fühlen sich nicht-vernetzte Personen? Man stellt sich unwillkürlich die Frage, ob man selbst in einem Kollektiv aufgehen wollen würde. Eine ungewöhnliche Story, die mir super gefallen hat!

Die Astrologie und ihr Einfluss auf die Weltpolitik ist das Thema der Geschichte Stars & Stripes von Andreas Gruber, die für mich ein weiteres Highlight darstellt. Ein Astrologe glaubt das Ende der Welt vorherzusehen und will die Präsidentin der USA warnen. Zu diesem Zweck schmuggelt er sich in das Weiße Haus. Die sehr gute, skurrile Grundidee und der äußerst kurzweilige Erzählstil haben mir sehr viel Spaß bereitet!

Die Geschichte Der Vermicelli-Nebel von Mia Faber musste ich zweimal lesen. Die einzelnen Handlungsebenen haben mich verwirrt. Es dauerte, bis ich sie für mich verknüpft hatte. Es ist eine tragische Geschichte um Liebe, Verlust und Suche, die sehr schön geschrieben ist und einen emotional durchaus mitnimmt. Leider bleiben zusätzlich zur irritierenden Struktur für meinen Geschmack auch zu viele Warum? Im Raum stehen.

Von Leo Lukas erwartet man eine schräge Geschichte und man wird nicht enttäuscht. Futurum exactum ist eine Zeitreisestory aus einer ganz seltsamen Richtung. Die Protagonistin wird damit konfrontiert, dass sie die Menschheit verändern wird und in der Zukunft als »Urmutter der Freiheit« verehrt wird. Sie scheint davon aber noch nichts zu wissen…
Gefiel mir super, aber die Geschichte hört halt mittendrin auf! Das kann man doch nicht machen! Der Hinweis »WIRD FORTGESETZT« befriedigt nur bedingt.

Den Abschluss macht Chrysalis von Melanie Vogltanz. Auch diese Story musste ich zweimal lesen, um sie zu verstehen. Ich scheine ein Problem mit Geschichten mit mehreren Handlungsebenen zu haben. Diese hier erzählt von einer Verwandlung und ist ebenfalls sehr schön geschrieben. Mich hat sie aber nicht komplett gepackt. Das lag vermutlich auch an meiner Wahrnehmung.

Wie sieht nun mein Fazit aus?
»Facetten der Zukunft« ist eine sehr schöne Anthologie mit einer Reihe toller Geschichten, die mir sehr viel Spaß gemacht hat! Die Stories waren meiner Ansicht nach allesamt von hoher schreiberischer Qualität und haben mir bis auf Ausnahmen auch inhaltlich zugesagt. Aber das bei einer solchen Sammlung der eigene Geschmack nicht durchgehend getroffen wird, ist völlig normal.
Ich möchte das Buch uneingeschränkt empfehlen!

Wenn ÖsterreicherInnen Science-Fiction schreiben…
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